Da stehen wir nun. Es ist 10:50 Uhr am Mittwochvormittag, und das Thermometer zeigt 5 Grad. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite scheint die Sonne durch die hohen Gebäude. Auf unserer Seite ist ein sehr unscheinbarer Eingang, hier in der 2 W 8th St in New York. Auf der verspiegelten Scheibe steht „Electric Lady Studios“, und ein breiter Türsteher steht vor der ebenfalls verspiegelten Eingangstür. „What´s your name?“, fragt mich die nette Dame, die an einem kleinen, vor wenigen Minuten aufgestellten Tisch vor der Scheibe sitzt. „Norman Gräter – höchstpersönlich“, antworte ich grinsend. Sie lächelt und händigt mir zwei neongelbe Armbänder sowie zwei Pässe zum Umhängen aus. Nachdem wir die schwere Eisentüre hinter der verspiegelten Türe passieren, geht es scharf links um die Ecke, und eine steile Treppe führt nach unten. Dort unten hängt ein großes Bild des Studiogründers – Jimi Hendrix. Vor dem Bild macht die Treppe einen Klick zur rechten Seite, und von dort geht es vorbei an Plattencovern der Rolling Stones, Bob Dylan, Taylor Swift, KISS und vielen anderen, die hier in den letzten Jahrzehnten ihre Musik aufgenommen haben. Wir nehmen im Studio A Platz und warten auf den Initiator dieser (wie sich noch herausstellen wird) sehr besonderen Erfahrung. Sein Name ist Gene Simmons. Und wenn dir das nichts sagt, kennst du auf jeden Fall seine Band. Denn Gene Simmons ist Sänger und Bassist der vor vier Tagen in den Live-Ruhestand gegangenen Band KISS. Denn die haben am Wochenende zuvor ihre letzten beiden Tour-Konzerte im Madison Square Garden in New York gespielt. Heute ist Gene im Electric Lady Studio. Und Anke und ich sind mit dabei. Warum? Gene möchte heute einen KISS-Song mit uns und ein paar anderen wundervollen Menschen aufnehmen. Welchen? Wissen wir nicht (was mir dann später als Nicht-KISS-Fan doch noch fast zum Verhängnis wird).

Es kommt immer besser, als du denkst. Das ist mein neuer Lieblingsglaubenssatz. Wie ich darauf komme, fragst du dich möglicherweise. Tja, ich habe an diesem Tag in New York mit viel gerechnet. Jedoch nicht mit so viel. Doch eins nach dem anderen.

Gene Simmons betritt kurz nach uns freudestrahlend das Studio und setzt sich vorne auf einen Barhocker. „Guten Morgen. Schön, euch zu sehen. Bevor wir starten, noch kurz ein paar Worte zu diesem Studio. Das hier ist heiliger Musikboden. Bis heute waren hier noch keine Besucher zu Gast. Dieser Ort ist ausschließlich für Musiker, und du musst Glück haben, überhaupt einen Termin für deine Aufnahme zu bekommen. Auch herrscht hier in der Regel Fotografierverbot. Das Studio macht für uns heute eine absolute Ausnahme. Heute seid ihr die Stars, und ihr dürft alles filmen und fotografieren, was ihr wollt.“ Gene erzählt zudem, dass in den Electric Lady Studios noch alles ist, wie es bei der Gründung war. Die gleiche Soundanlage. Die gleichen Möbel. Der gleiche Teppich. Ja, der gleiche Teppich, auf dem Eric Clapton, Adele, Led Zeppelin, Stevie Wonder, David Bowie und viele andere bereits standen. Die gleiche Couch, auf der Taylor Swift ihre gerade aufgenommene Musikprobe hörte, die gleiche Toilette, die sie alle gesehen hat. Unglaublich, und nun stehen wir hier. Am gleichen Ort. Am gleichen Mikro. Auf dem gleichen Teppich.

Gene holt erst alle Männer und dann alle Frauen nach vorne, um den Refrain einzusingen. „Rock´n Roll All Night“ hat er sich ausgesucht. Den Song kenne ich zumindest von der Live-Show. Den Refrain bekomme ich schnell hin. Läuft. Nun geht es jedoch an die Strophen. „Wer hat Lust, jeweils eine Zeile zu singen? Ich brauche eine kraftvolle und rotzige Stimme für die erste Zeile.“ Gut, da hier Profimusiker im Raum sind, hebe ich mal nicht direkt die Hand und warte ab. Während die Mischung aus Profis und absoluten Amateuren ihre beste Performance bieten, setzt Gene auch immer wieder mutige Sänger zurück auf ihren Platz, die es einfach nicht hinbekommen, die Töne zu treffen.

Wenn ich das Lied doch nur ein paar Mal in Ruhe üben könnte, dann hätte ich das super drauf. Jedoch gibt es diese Chance nicht. Nicht heute und nicht hier. Live is Live. Nachdem von uns 30 wundervollen Menschen die Mutigen bereits die Hand gehoben hatten, nutze ich die Chance und werde für die nächste Zeile vorsingen. Da ich direkt in Genes Mittelblickfeld sitze und wohl als einziger die Hand hebe, bittet er mich direkt mit einer einladenden Geste nach vorne.

Gehen wir für einen Moment ein paar Minuten in der Zeit zurück. Ich habe mir nämlich mittlerweile den Text gegoogelt und lese mit, was gerade eingesungen wird. Somit sehe ich auch, welche Zeile nun eigentlich kommen müsste. Und diese lerne ich nebenher auswendig. Versteh mich richtig – es sind wenige Worte. Jedoch ist es in diesem Moment sehr herausfordernd für mich, mir diese paar Worte einzuprägen. Egal. Wird schon. Mut wird immer belohnt.

Mittlerweile bin ich vorne am Mikro angekommen. Mit folgendem Satz im Kopf warte ich auf meinen Einsatz. „You´ll keep on saying you´ll be mine for a while“. Ebenso summe ich gedanklich seit 15 Minuten die Melodie dieser Eingangszeile der Strophe zwei vor mich hin. Gene schaut kurz auf sein Handy, überlegt und sagt „And you say you wanna go for a spin.“ Er schaut mich an. Ich schaue ihn an. Ob er mir mein blankes Entsetzen ansieht? Denn seine Zeile hat mit meiner im Kopf geübten Zeile so rein gar nichts zu tun. Weder vom Text her, noch von der Melodie.

Ich weiß nicht, ob du das kennst; so verwirrt zu sein, dass es einem Blackout nahekommt. Ich meine „And you say you wanna go for a spin“ sind neun Worte. Und als er die Zeile vorgelesen hat, habe ich bereits den Anfang wieder vergessen. Hattest du auch schon mal so eine Erfahrung? Also ganz black war es bei mir nicht, jedoch schon ziemlich dunkelbraun. Denn meine Worte im Kopf hatten mit den Worten aus seinem Mund so rein gar nichts zu tun. Schöne Scheiße (das Schöne habe ich netterweise reingedichtet – in dem Moment dachte ich einfach nur SCHEISSE…)

Ich fasse die nun folgenden 16 Minuten mal so zusammen. Bei den ersten fünf Versuchen komme ich erst gar nicht in den Beat. „Ich hab doch einmal im Kopf alle Zeilen auf meinem Platz sitzend durchgesungen gehabt? Was stimmt hier nicht?“ Die Lösung: In meiner Google-Textvariante fehlt das Wort „And“. Dort steht nur „You say you wanna go for a spin.“ Nun soll da noch ein „And“ davor. Klingt leicht, ist es jedoch nicht. Denn nun hat das Ganze einen anderen Rhythmus. Scheiße. Ich weiß, ich wiederhole mich.

Als ich den Rhythmus dann endlich finde, habe ich den Text mehr oder weniger vergessen und singe “And you say I wanna go for a spin.“ In feinstem Deutsch erklärt mir Gene in aller Seelenruhe den Unterschied zwischen „you“ und „I“ – also zwischen „du“ und „ich“. Wäre mir da nicht schon maximal der Stift gegangen, wäre das eine grandios lustige Szene gewesen. Ok. Dann also das Ganze nochmal mit „You“ statt „I“. Schei… Du weißt schon. Was mich zudem verrückt macht und komplett aus dem Konzept bringt, ist mein Vorsänger, dessen halbe Zeile ich noch zum Reinkommen in meinen Textblock höre. „Kann ich bitte nur die Melodie haben?“ Gene nickt und gibt die Info an die Tonregie weiter. Nun kommt nur die Melodie. Zack, wieder verhauen. Ich schaue mit einem Auge zu ihm und mit einem Auge nach vorne. „Schau nicht mich an (Gene sitzt links von mir auf einem Barhocker), sondern gerade aus aufs Mikro.“ Innerlich bin ich kurz vor einer Panikattacke. Wenn ich geradeaus schaue, sehe ich nicht, wann es losgeht. Und wenn ich zu Gene schaue, singe ich am Mikro vorbei. „Gene, darf ich dich bitten, dich vor mich zu stellen und mir den Einsatz zu geben?“ „Klar.“ Er steht auf und stellt sich vor mich, singt mir den Part drei, vier, fünfmal vor. Ich singe mit, und gemeinsam schmettern wir diese neun Worte immer und immer wieder. Klasse, ich hab’s. Läuft. „Super, Musik ab…“ ruft Gene in die Tonregie. Und wer verhaut es direkt wieder? Ich. Am liebsten würde ich das ganz ohne Musik einsingen. Einfach so wie gerade eben. Gemeinsam mit Gene und er hört irgendwann auf und ich singe allein weiter. Aber das wird wohl nichts, denn das würde vom Reinschneiden für dieses Projekt zu kompliziert werden.

Weißt du, was in diesem Moment meine größte Angst ist?

Tja, darauf und auf den Rest der Geschichte darfst du nun eine Woche warten. Wie früher bei der Lindenstraße. Cliffhanger am Ende und nächste Woche geht’s weiter. Daher wünsche ich dir eine grandiose Woche, und die Fortsetzung folgt nächste Woche…
Hier gibt´s Teil 2.